Das Rezept für ein langes Leben: ein Interview
Er ist der bewundernswerteste Hundertjährige in Deutschland: Wilhelm Wessler. Seine Augen sind jung. Sie verraten, als Spiegel seiner Seele, was in ihm steckt: wacher Geist, feinsinniger Humor und unendlicher Lebensmut. Apropos Seele: An ihr ewiges Leben kann er nicht glauben – umso mehr glaubt er an die Kraft der Gedanken.
In 100 Jahren ist nicht alles vorbei
Ruhe in Frieden, mein lieber Freund! Du bist und bleibst für immer in meinem Herzen.
Wilhelm Wessler ist im Alter von 102 Jahren im August 2021 von uns gegangen.
Meinen hundertjährigen Freund kenne ich gefühlt mein Leben lang. Und das ist weniger als die Hälfte seines Lebens. 100 Jahre! Stolzes Alter! Stolzer Mann, der einen schlimmen Krieg, den Tod seiner Frau und fast aller Kameraden und Freunde hinter sich hat. Als junger Mann war er Soldat. Aus dem Krieg kehrte er erwachsen, aber nicht gebrochen zurück – und wurde ein angesehener Steuerberater. Zwischendurch spielte Wilhelm Tennis und meisterhaft Prellball – bis er 85 Jahre alt wurde. Solange unterstützte er auch sein Steuerbüro tatkräftig. Eine Krankheit hat ihn aus seinem „aktiven Bann“ geworfen – aber wiederum nicht gebrochen. Mens sana in corpore sano? Wilhelm Wessler ist ein Beweis: Die Leistungen von Körper und Geist sind voneinander unabhängig.
Der Hundertjährige, der nicht „aus dem Fenster stieg“
Ich habe ihn in guten wie in schlechten Zeiten „erlebt“ – und dafür bewundert, dass er sich immer wieder, wie „Phönix aus der Asche“, erhebt. Was gibt ihm die Kraft? Wie hält er seinen Geist so wach, seine Gedanken so klar und die Seele so jung? Denn: Wilhelm Wessler ist nicht nur ein besonderer Mensch – er ist der jüngste Hundertjährige überhaupt.
Er fühlt sich wie 70, zitiert den halben Goethe, den ganzen Schiller und die Bibel aus dem Stehgreif und kennt viele Philosophen besser, als sie sich selbst kennen. Und darüber hinaus kennt er die Menschheit und kann Gut und Böse sehr gut unterscheiden. Weil er viel Böses erlebt und viel Gutes getan hat. Und er hütet das Geheimnis der ewigen Jugend – der weisen Jugend des Geistes: die ununterbrochene Denkarbeit.
Ich denke kurz darüber nach: Wer mitdenkt, den kann niemand manipulieren, hinters Licht führen, für dumm verkaufen. Ein solcher Denker entwickelt sich immer weiter – und entwickelt die Welt um ihn herum. Aus der Kraft der Gedanken ergibt sich die Kraft des Geistes. Und diese hilft, vieles zu bewältigen, 100 Jahre alt zu werden und sich dabei jung zu fühlen. Beneidenswert!
Ich will mehr erfahren: das Interview
Wie fühlt sich ein Hundertjähriger, der weiß: In 100 Jahren ist NICHT alles vorbei?
Denke ich an die Geschichte, so ist ein Jahrhundert sehr lang, denn in der Zeit geschieht Weltbewegendes. Denke ich an mein Jahrhundert (Kinder- und Jugendzeit 20 Jahre, Krieg 7 Jahre, Ausbildung 10 Jahre, Beruf 37 Jahre, Rentnerzeit 26 Jahre = 100 Jahre), so empfinde ich jeweils die zeitlichen Intervalle als kurz.
Ich fühle mich wie 70.
Kommt Dir Dein Leben kurz vor?
Eine Zigeunerin sagte mal auf Grund meiner Handlinien: „Du alt werden!“ Beruflich vollzog sich mein Leben ständig zwischen Terminen. Eine Steuerart war mal auf 30 Jahre angelegt. Und davon habe ich drei Zeiten erlebt.Ich hielt die Zeit für eine kleine Ewigkeit. Am Ende stand fest, die Zeit ist nur so dahin geflogen.
Hast du dich jemals alt gefühlt?
Ich bin ein Spätentwickler. Mit 16 Jahren hörte ich meinen Lehrer sagen: „Wessler, Sie Kind!“ Mit 21 Jahren sagte man schon mal von mir als junger Soldat in Hessen: „ Dä Willi is ä Kindskopp!“ Danach habe ich bald meinen Entwicklungsrückstand aufgeholt. In Russland, im Krieg, hatte ich Angst vor dem Tod – und auch das Gefühl, dadurch alt zu werden …
Apropos Tod: Was denkst Du heute als Hundertjähriger darüber?
Der Philosoph Epikur sagte dem Sinne nach: „Keine Angst vor dem Tod, denn solange du lebst, ist der Tod nicht da. Tritt der Tod ein, so sind die Ängste nicht mehr da!“
Ich habe mal gereimt:
„Ohne Rast und ohne Hetze vollziehen sich Naturgesetze.“
Das beruhigt.
Vom wahren Reichtum und der schlimmsten Armut
Wenn Du auf Dein Leben zurückblickst: Was macht unser Leben wirklich reich?
Wenn der Mensch Arbeit hat, ist er reich. Aber nicht im materialistischen Sinne, sondern, weil er etwas leistet. Er arbeitet also am Wert der Menschheit, leistet seinen Beitrag für etwas gemeinsames Großes … Ein Seidel-Zitate fällt mir dazu ein:
Arbeit! Arbeit! Segenquelle; Heil und Ehre Deiner Kraft, die aus Finsternis die Helle, Edles aus Gemeinem schafft!
Und was ist die schlimmste menschliche „Armut“?
Der ärmste und bedauernswerteste Mensch ist, der nie lieben durfte. Schiller sagte dazu:
Ja, wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund, und wer’s nicht gekonnt der stehle, weinend sich aus diesem Bund!
Was möchtest Du aus dem Erlebten nie mehr missen?
Die Forschung auf dem Gebiet der Religionen. Religionen, die trotz aller Widerwärtigkeiten, von denen die Geschichte zu berichten weiß, ihren hohen sittlichen Wert nicht verlieren.
Warum das?
Die Religion ist mehr oder weniger ein Seelenzustand. Zu wissen, was zwischen Himmel und Erde das Leben bedeutet, ist Religion. Ich kenne Menschen, die keine Ahnung von Religion haben. Im Gespräch kommen sie mir so dumm vor.
Seele und Geist: Was ist was?
Wenn wir gerade von der Religion sprechen: Glaubst Du an die Seele und Ihr ewiges Leben?
Seele (Gefühl) und Geist (Verstand) sind nur zwei Begriffe, die teils getrennt, teils gemeinsam dem Menschen dienen und unsere Empfindungen erklären. Substanziell treten sie im menschlichen Körper nicht in Erscheinung – sind reine Gehirnfunktion.
Ohne Verstand kannst du keine Gefühle haben. Du bist bewusstlos. Wenn du kein Gefühl hast, nimmt der Verstand nichts wahr. Das eine bedingt das andere. Im Grunde genommen würde ich sagen: Geist und Seele – also Gefühl und Verstand – ist ein und dasselbe. So, wie es sich wohl Theodor Fontane mit den folgenden Worten wünscht:
Erst unter Kuss und Spiel und Schmerzen erkennst du ganz, was Leben heißt;
lerne denken mit dem Herzen und lerne fühlen mit dem Geist.
Du redest sehr nüchtern über die Seele und versuchst, sie mit dem Verstand zu erklären …
Na ja, erklären kann nur der Verstand (Geist). Er kann verständlich machen, was ihm die Seele mit ihren fünf Sinnen an Empfindungen vermittelt. Die Religionen glauben an eine Körperlichkeit der Seele, ohne sie aber substanziell mit Gewicht entdeckt zu haben. Sollte sie gefunden werden, dann entfällt der Glaube, der durch das Wissen ersetzt wird. Tritt der Tod ein, verlieren wir die Gehirnfunktion; Seele und Verstand verlassen uns.
Solange ich denke, lebe ich!
Dann sprechen wir doch über den Geist: Wie hältst Du Deinen wach?
Ich habe BEWUSST meinen Geist wachgehalten. Dazu gehört nicht nur lesen, sondern auch Geschehnisse durchdenken, nach Wahrheiten suchen – immer und immer wieder. Das Ergebnis meiner Gedanken habe ich stets in Niederschriften festgehalten. Das ist es, was meinen Geist nährt.
Ich bin zum Denken veranlagt und dafür geeignet, mich mit Philosophie zu befassen. Ich habe schlichtweg das Bedürfnis zu denken. DAS habe ich mein Leben lang gemacht – und mache es immer noch. Denken bedeutet für mich, nicht alles hinnehmen, was andere sagen, sondern hinterfragen, analysieren und zum eigenen Schluss kommen. Die Kunst ist dabei, ein eigener Philosoph zu sein. Denn entscheidend ist nur, was ich respektvoll über andere denke – nicht, was andere behaupten.
Ich bin mir sicher, dass ich einige zusätzliche Lebensjahre meiner stetigen Denkarbeit zu verdanken habe.
Wenn Du nochmal geboren werden würdest: Wo, wann und als wer möchtest Du auf die Welt kommen wollen?
Auf die Welt käme ich gern wieder als Baby. Als Erwachsener möchte ich mit BVB Dortmund Weltmeister sein. Danach Vater, Großvater, Urgroßvater – und wieder 100 Jahre alt werden, mit der Erkenntnis, was gut und böse ist. Denn das bedeutet: klug sein.
Wofür bist Du Deinem Schicksal am meisten dankbar?
Den bösesten Krieg, den es ja gab, überlebt zu haben.
Das Vermächtnis an junge Generationen
Aus der Höhe Deiner Erfahrung und Deiner Weisheit: Welche Botschaft möchtest Du den Folgegenerationen vermachen?
Meine Botschaft:
Denken, denken, denken – bei allem, was ihr im Sinne der Aufklärung tun oder lassen müsst.
Immanuel Kant sagt:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Wer an mir zweifelt, dem rufe ich das Wort des Mephistopheles zu:
Ihr bleibt bei meinen Worten kalt.
Euch lieben Kindern lass‘ ichs gehn;
bedenkt, der Teufel, der ist alt,
so werdet alt, ihn zu versteht!
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