Geschichte über die Angst: für Kinder und Erwachsene
Geschichte über die Angst und den Mut, ihr gegenüberzutreten

Wie ein Junge seiner dunklen Furcht ins Gesicht blickte, um ihre helle Seite zu erkennen

Kennst du alle Gesichter deiner Angst? Bist du deiner Furcht manchmal völlig ausgeliefert? Diese Geschichte über die Angst – für Kinder und Erwachsene – ermutigt dich dazu, dem dunklen Monster zu begegnen, um ihm die Macht über dich zu entziehen.   

Das gesichtslose Monster tritt aus dem Schatten 

Tue täglich eine Sache, die dich ängstigt. (Eleonore Roosevelt)

Der verträumte Halbmond leuchtete zart am indigoblauen Himmel, als Gregor aus dem Fenster sah: Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Jeden Abend zuckte der kleine Junge leicht zusammen, als der Satz erklang: „Gregooor, Zähne putzen und ab ins Bett – dein Traumhase wartet schon auf dich.“ „Traumhase“ hieß sein Kuscheltier: ein alter, zerzauster, aber immer noch liebenswerter Plüschhase, ohne den Gregor nicht einschlafen konnte. ‚Wenigstens ist mein Traumhase kein Angsthase wie ich …‘, dachte Gregor, als seine Mutter nach einem Gute-Nacht-Kuss das Licht ausmachte und die Zimmertür hinter sich schloss. Der Junge drückte das Plüschtier ganz fest an seine Brust, versteckte sein Gesicht in seinem langen, struppigen Fell und wünschte sich, schnell einzuschlafen. Doch es klappte nicht. Schon bald spürte er, dass seine Füße zu frieren begannen – wie jedes Mal, wenn er Angst hatte …

Heute Nacht war sie größer als je zuvor: die Angst vor der Dunkelheit. Das Gefühl, vom grausigen Schatten umgeben zu sein, wischte mit seinem rabenschwarzen Flügel den Rest der Müdigkeit aus Gregors Augen. Er fasste all seinen Mut, hob zögerlich sein Gesicht vom Kuschelhasen weg und starrte in die dunkle Leere. Doch er sah wie immer … nichts. Es war nichts zu erkennen, was ihm hätte Angst machen können. Und doch spürte er, dass es da war: das gesichtslose Monster, dem Gregor jede Nacht begegnete. Heute schien dieses die Größe seines Zimmers erreicht zu haben. Der kleine Junge kniff seine Augen wieder fest zu, als er plötzlich ein leises Flüstern hörte: „Hallo Gregor“, krächzte das Ungeheuer aus der dunklen Tiefe des Zimmers. Die Angst suchte ein Gespräch mit dem „Angsthasen“ Gregor. Denn sie wollte endlich aus dem Schatten treten, um dem Jungen ihr Gesicht zu zeigen …

Die Angst vor der Dunkelheit ist die Angst vor dem Unsichtbaren – oder: Die Schattenseite des Mondes

Die Dunkelheit hat dir viel über deine Ängste zu erzählen.

Erstarrt vor Furcht wunderte sich Gregor, woher die Angst seinen Namen kannte. „Ich kenne dich besser, als du es selbst tust, mein Lieber“, lies das Angstmonster Gregors Gedanken. Wie hätte es auch anders sein können: Letztendlich war es Gregors „persönliche“ Angst! „Auch wenn du denkst, dass du ein Angsthase bist: In dir steckt sehr viel Mut. Das beweist du jedes Mal, wenn du schlafen gehst und mich im Dunkel ganz in deiner Nähe spürst“, setzte die Angst ihren Monolog fort. Gregor drückte seinen Schlafbegleiter zwar nach wie vor fest an sich. Doch ein Funke Neugier brachte ein wenig Licht ins Zimmer – und Gregor lauschte: Die Angst schien nur daran interessiert zu sein, ihm etwas zu erzählen.

„Du siehst mich nicht – und trotzdem fürchtest du dich“, sprach die Angst zum Jungen. „Ihr Menschen habt eine seltsame, aber nicht seltene Angewohnheit: euch vor Unsichtbarem, Unbekanntem – vor etwas, was ihr ‚Ungewissheit‘ nennt –, zu fürchten. Diese Furcht vor scheinbar Verborgenem existiert meist nur in eurem Kopf. Die Angst vor der Dunkelheit gehört dazu: Wenn ihr nichts erkennen könnt, scheint es euch voller Gefahren“, führte die Stimme aus dem Schatten aus. „Wie auf eine schwarze Leinwand werden im Dunkel die in euch tief versteckten Ängste projiziert. Und wenn ihr diese nicht ans Licht bringt, lässt sie die Dunkelheit immer größer werden …“

Gregor verstand zwar vorerst nur Bahnhof, hörte aber dem Angstmonster gebannt zu. „Nun stell dir vor: Dunkelheit ist bloß die andere Seite des Lichts“, redete die Angst wie ein Wasserfall weiter. Denn sie hatte es scheinbar satt, stumm und ungesehen zu bleiben. „Siehe dir zum Beispiel den Mond an: Er hat eine helle und eine dunkle Seite. Du weißt zwar nicht, wer oder was sich alles auf dem Mond versteckt. Da du aber stets seine beleuchtete Seite siehst, fürchtest du dich nicht davor.“ Gregor traute sich, zum Fenster zu schauen und den leuchtenden Halbmond anzusehen. ‚Die Angst ist also so etwas wie die Schattenseite des Mondes‘, dachte der Junge, während er die leuchtende Halbkugel am Nachthimmel betrachtete – und bereits gespannt darauf wartete, was das Monster noch zu erzählen hatte …  

Geheimnisse der Angst: „Was bist du und warum bist du hier, Angst?“

Wo keine Angst ist, kann sich kein Mut zeigen.

„Übrigens: Wenn es keine Dunkelheit gäbe, würdet ihr Menschen auch das Licht nicht kennen und schätzen. So ist es auch mit der Angst, mein kleiner Gregor: Wenn ich nicht existierte, würden die Menschen den Mut nie kennenlernen.“ Je länger Gregor der quietschenden Stimme der Angst lauschte, desto ruhiger klopfte sein Herz. Denn das Angstmonster führte wohl wirklich nichts Böses im Schilde. Inzwischen empfand der Junge so etwas wie Freude, dass die Angst nun endlich aus ihrem Schatten hervorkam und zu sprechen wagte. ‚Wenn jemand solange schweigt, hat er sicher auch Angst, sich zu zeigen. Die Furcht scheint also auch den Mut zu besitzen‘, dachte Gregor, wobei er nicht einmal genau wusste, was das Wort „Mut“ bedeutet.

Kaum dachte Gregor diesen Gedanken zu Ende, meldete sich die Angst wieder zu Wort: „Ja, ich kenne den Mut viel zu gut – er ist schließlich mein Mitspieler. Ich bin so etwas wie der Gegenwind, der dich in bestimmten Situationen bremst – und der Mut ist der Rückenwind, der dich weiterbringt, wenn du dich traust, etwas Beängstigendes zu tun.“

„Hast du denn auch einen Feind?“, wagte sich der Junge zu sprechen, denn es war zwecklos, zu schweigen: Die Angst las sowieso jeden seiner Gedanken!

„Das Vertrauen – das ist mein Gegner“, sprach das Angstmonster und biss sich sogleich auf die Zunge. Denn damit verplapperte es ungewollt sein erstes Geheimnis.

„Was ist Vertrauen?“, fragte Gregor nach, weil dieses „Vertrauen“ ein wichtiges Werkzeug gegen die Angst zu sein schien.  

„Du vertraust in etwas, wenn du etwas gut kennst. Zum Beispiel: Ihr Menschen habt einerseits Angst vor Unsichtbarem, welches nur in eurer Phantasie existiert. Andererseits überquert ihr einen mächtigen Fluss über eine Brücke – meistens völlig angstfrei! Ihr seht die mitreißende Kraft des Wassers und fürchtet euch trotzdem nicht …“, sagte die Angst und verstummte erwartungsvoll.

„Na ja, wahrscheinlich ist es so, weil wir der Brücke vertrauen! Wir sind schon oft darüber gegangen und wissen, dass sie uns sicher ans andere Ufer bringt“, leuchtete es Gregor ein, worauf er stolz war.

„Ja klar – so ist es, ihr habt eure Erfahrung damit gemacht und Vertrauen in die Brücke gewonnen.  Darum habe ich in solchen Situationen keine Chance“, meinte die Angst. „Es gibt aber auch Brücken, die nicht aus Beton und Stahl, sondern alt und wackelig sind. Da schalte ich mich sofort ein, um euch davor zu warnen, solch eine Brücke zu betreten.“

„Dann bist du manchmal auch so etwas wie unser Beschützer!?“, freute sich Gregor, verstanden zu haben, dass die Angst helle Seiten hat – wie eben auch der Mond.

Die Angst freute sich ebenfalls, für den Jungen nicht mehr nur das dunkle Monster zu sein, und setzte ihre Aufklärung fort. „Das Vertrauen kannst du auch in dich haben –, wenn du deine Talente kennst und weißt, wozu du fähig bist. Dann weißt du auch, dass du aus fast jeder scheinbar aussichtslosen Situation einen Ausweg findest“, sprach die Angst. „Dieses Vertrauen lernst du ebenfalls durch mich kennen: Wenn du mich überwindest und etwas tust, was du noch nie getan hast – zum Beispiel Fahrrad fahren oder schwimmen … So lernst du dich selbst kennen – und wächst daran. Ich bin also auch so etwas wie ein Dünger, der dich stärken kann“, klang die Stimme aus dem Schatten fast schon angeberisch und packte gleich ein weiteres Beispiel ihrer „Heldentaten“ aus:

„Von Zeit zu Zeit bin ich außerdem so etwas wie ein Motor, der dich antreibt. Damit du dich selbst immer besser kennenlernst. Erinnerst du dich an den großen, knurrenden Hund, der dich in einem Hinterhof überrascht hat und dich beißen wollte?“

Natürlich wusste Gregor von diesem Vorfall noch: Gerade sah der Junge die kläffende Schnauze mit scharfen Zähnen wieder vor sich. „Ich war selbstverständlich für dich da, mein Kleiner! Aus lauter Angst liefst du so schnell, dass der Hund dich nicht einholen konnte. Seitdem weißt du, wie schnell du laufen kannst, und bist bei jedem Laufwettbewerb der Klassenbeste – nicht wahr?“ Auch das stimmte: Gleich einige Wettlauf-Auszeichnungen an Gregors Wand zeugten davon …

„Aber was kann dir denn so ein Vertrauen anhaben, wenn du doch so stark und so mächtig bist?“, wunderte sich Gregor. Denn das Vertrauen schien ihm etwas Weiches und Harmloses zu sein.

„Wir zwei, das Vertrauen und ich, sind keine Weggefährten. Je größer dein Vertrauen wird, desto kleiner werde ich“, gestand die Angst etwas beschämt. Weil sie eigentlich gar nicht vorhatte, Gregor all ihre Geheimnisse zu verraten.

Was die Angst vor der Dunkelheit und die Angst vor dem Tod gemeinsam haben

Der Tod ist die Kehrseite des Lebens.

Durch das zarte Halbmondlicht, das nun ins Zimmer hineingelangte, lichtete sich das Dunkel ein wenig mehr, sodass Gregor die Konturen seiner Möbel und Spielsachen erkennen konnte. Es versteckte sich hier jedoch nichts Unsichtbares: kein Monster war in Sicht. Inzwischen erinnerte die Stimme der Angst den Jungen an die Stimme seines Urgroßvaters, den er ganz kurz kannte, bevor der Uropa starb. So sah Gregor in seiner Phantasie kein Angstungeheuer mehr, sondern einen alten Greis, in ein weites, dunkles Gewand gehüllt. Doch auch dieses Bild ängstigte Gregor etwas, denn es erinnerte ihn an das Bild des Todes, das er mal in einem Buch sah …

„Die Angst vor der Dunkelheit ist für euch vergleichbar mit der Angst vor dem Tod“, meldete sich die Angst nach einer kurzen Pause. „Der Gedanke, dass ihr, wenn ihr sterbt, in die Dunkelheit blickt, ängstigt euch ungemein. Dabei ist der Tod die andere Seite vom Leben. Das ist so, als würdest du plötzlich die Schattenseite des Mondes sehen. In dem Moment, wenn du diese siehst, erkennst du, dass es immer noch derselbe Mond ist – und nichts, wovor du Angst haben solltest.“

Gregor kannte auch diese Angst – die Angst vor dem Tod: Er musste sich bereits von seinem Uropa und auch von seiner Oma verabschieden, als sie auf die Schattenseite des Mondes gingen. Er war sehr traurig darüber: Weil er wusste, dass er sie nie wieder sehen oder hören könnte. Doch von Zeit zu Zeit träumte er von den beiden Verstorbenen. Also schienen sie, irgendwo anders weiterzuleben, meinte Gregor, nun die Worte der Angst über den Tod verstehend. Doch das beruhigte ihn wenig: Er wusste nämlich aus Gesprächen, dass auch seine Eltern, sein großer Bruder und viele andere Menschen Angst vor dem Tod hatten.

„Aber warum zeigst du allen nicht einfach, dass der Tod so etwas wie die Schattenseite des Mondes ist? Dann würden die Menschen sicher weniger Angst vor dem Tod haben?“, bohrte Gregor leicht vorwurfsvoll nach.

„Da bin ich leider oft machtlos. Beziehungsweise, zu meinem Bedauern, zu machtvoll. Denn das ist die Aufgabe eures Vertrauens in den Schöpfer – ihr nennt ihn auch die große Quelle oder Gott oder Krishna oder Allah –, euch vor dieser Art der Angst zu befreien. Euer Vertrauen darin, dass es im Jenseits auch Licht gibt – denn bekanntlich rückt auch die Schattenseite des Mondes immer wieder ins Licht –, ist einfach viel schwächer als eure Angst vor dem Tod. So ist und bleibt er für euch ein Unbekannter, ein dunkles Geheimnis, also fürchtet ihr ihn. Doch diese Furcht hat auch eine gute Seite“, hätte die Angst beinahe ihr nächstes Geheimnis enthüllt und verstummte plötzlich. Gregor ließ jedoch nicht locker, sodass die Angst es ihm doch verraten musste.

Die helle Seite der Angst vor dem Tod

Der Tod führt dir die Schätze und das Schätzen des Lebens vor Augen.

„Die Angst vor dem Tod gibt euch die Kraft zum Leben – ja zum Überleben“, gestand die Angst. „Denke doch an deine Begegnung mit dem bösen Hund: Hattest du da nicht auch Angst vorm Sterben?“

Natürlich hatte die Angst recht: Gregor rannte damals um sein Leben! Und doch lief es dem Jungen beim Gedanken, eines Tages auf die unbekannte, dunkle Seite des Mondes gehen zu müssen, eiskalt den Rücken herunter. So umklammerte Gregor seinen Traumhasen mit seiner ganzen Kraft. Die Angst merkte es und versuchte, den Jungen zu trösten und ihn aufzumuntern: „Stell dir vor: Zu sterben ist wie einzuschlafen. Wenn du deine Augen schließt, wird es doch auch dunkel – aber nur für eine kurze Zeit. Schon sehr bald, nachdem du deine Augen geschlossen hast, bist du in deinen Träumen. Und hier geht es mit dem Leben weiter: Es ist hell oder sogar bunt in deinen Träumen, nicht wahr?“

Gregor überlegte: ‚Die Angst hat wieder recht – nach dem Einschlafen sollte ich eigentlich gar nichts sehen, weil meine Augen zu sind …‘ Bei diesem Gedanken ließ der Junge seinen Kuschelhasen ein wenig los. Die Vorstellung, wie friedvoll es sich anfühlte, einzuschlafen und nach wenigen Sekunden in einer Traumwelt wieder „aufzuwachen“, legte sich wie eine weiche Decke um sein Herz. Denn Gregor liebte es, zu träumen: Hier gab es nichts, was ihm Angst machte.

‚Wenn sich der Tod ähnlich anfühlt, wie einzuschlafen, dann ist er gar nicht so furchtbar‘, dachte der Junge, während er immer müder wurde und die Freude verspürte, bald wieder in seine Traumwelt einzutauchen. Doch die Angst war mit ihren Ausführungen noch nicht fertig. Zwar wusste sie, dass Gregor nie ganz angstfrei leben würde: Denn sie hatte ihre guten Gründe, bei ihm zu sein. Sie hatte jedoch noch ein wichtiges Geheimnis – und hoffte, dass nach seiner Offenbarung sie und der kleine Junge zwar keine Freunde, aber eine Art Verbündete werden könnten …

Das größte Geheimnis der Angst

Schau deiner Angst ins Gesicht, damit sie ihre Macht über dich verliert.

Der kleine Junge schaute noch einmal den leuchtenden Halbmond an: Dieser zeigte mittlerweile ein wenig mehr von seiner dunklen Seite, sodass auch mehr Licht ins Dunkel des Zimmers kam. Darüber war Gregor sehr froh, auch wenn er inzwischen wusste: Die Angst war da, nicht nur, um ihn zu quälen. Denn sie hatte ihre lichtvollen Seiten – wie der Mond eben auch.

„So ist es, Gregor“, las die Angst die Gedanken des Jungen wieder. „Zwar nehme ich in den dunklen Ecken eurer Phantasie oft monströse Formen und Größen an – aber nur, wenn ihr euch nicht traut, in eure Schattenecken zu schauen, um dorthin Licht hineinzulassen“, kündigte die Angst ihr größtes Geheimnis an. „Trete ich aus dem Schatten, verliere ich meine Macht über euch.“

Gregor versuchte, sich vorzustellen, wie er die Angst in ihm ausleuchten könnte – doch es klappte nicht. „Wie kann ich dich denn besser erkennen, wenn du mich mal wieder packst? Meine Augen können doch nicht nach Innen schauen?“, fragte der Junge etwas verdutzt. „Es geht durchs Hineinfühlen, mein Junge – und darum, jede Situation, die dir Angst macht, zu Ende zu denken“, flüsterte die Stimme etwas verunsichert. Denn es kostete die Angst ganz schön viel Mut, über dieses Geheimnis zu reden.

„Was passiert zum Beispiel, wenn du beim nächsten Laufwettbewerb nicht der Erste sein wirst? Davor hast du doch jedes Mal Angst – oder etwa nicht?“, bohrte die Angst nach. Gregor presste verdutzt seine Lippen zusammen: Vor der Angst konnte er wohl gar nichts verheimlichen – sie wusste einfach alles über ihn. Er dachte an die Situation mit dem Laufwettbewerb und daran, was ihn da genau ängstigte. Er stellte sich vor, wie er stolpert und darum den ersten Platz nicht belegt. Oder noch schlimmer: Er fällt hin und alle lachen über ihn! Dann bekommt er nicht nur eine schlechte Note im Sportunterricht, sondern verliert auch seine Freunde. Diese Vorstellung war für Gregor so ungemütlich, dass die Gänsehaut seinen ganzen Körper bedeckte.

„Und nun erinnere dich daran, was dir vor zwei Jahren beim Spielen im Hof passiert ist: Das hast du leider viel zu schnell vergessen“, sprach die Angst etwas ungeduldig. „Du bist vom Baum gefallen – und all deine Freunde liefen zu dir, um dir auf die Beine zu helfen und dich zu trösten. Und das Mädchen, das du so gerne hast, brachte dir sogar ein Breitwegerich-Blatt, um damit deine Kniewunde zu versorgen“, erinnerte ihn die Angst unverzüglich. „Du siehst: Diese deine Angst ist grundlos und existiert nur in deiner Vorstellung. Sollte dich jemand doch auslachen oder sich von dir abwenden, wenn dir ein Missgeschick passiert, ist so jemand kein wahrer Freund. An seiner Stelle kommt sicherlich einer, der wirklich zu dir passt und hinter dir steht – darauf kannst du vertrauen!“, präsentierte die Angst in einer feierlich-gehobenen Stimme.

Bei diesen Worten pustete Gregor die Luft durch seine Lippen erleichtert aus: Die Angst war heute Abend eben sehr überzeugend – in allem, was sie tat. Auf Rat seiner Gesprächspartnerin musste Gregor noch ein Mal an seine Angst denken, beim Laufwettbewerb zu versagen. Zu Gregors Verwunderung spürte er nun, dass es gar nicht so schlimm war, einen Fehler zu machen. Er sah ganz klar das Gesicht dieser einen Angst vor sich: Grimassen ziehend und ihm die Zunge ausstreckend. Aber so furchtbar erschien ihm diese Fratze nicht mehr, sondern eher albern.

„Und nun denke bitte an deine Angst vor der Dunkelheit: Wenn du sie, wie bisher jeden Abend, spürst, hast du dich nie gefragt, woher sie kommt – nicht wahr? Und du hast nicht versucht, sie anzuschauen – stattdessen hast du deinen Traumhasen fest an dein Gesicht gedrückt.“ Natürlich wusste Gregor nicht, was es mit seinem Angstmonster auf sich hatte: Es war einfach da, sobald das Licht im Zimmer ausging. „Wie wäre es, wenn du jetzt deine Augen schließt und zu fühlen versuchst, was sich genau hinter deiner Furcht vor der Dunkelheit versteckt – und ob es so gefährlich ist, wie es in deiner Phantasie erscheint“, schlug die Stimme vor.

Gregor folgte dem Rat und schloss die Augen, um in seinem Inneren nach der Angst vor der Dunkelheit zu suchen. Doch gerade war davon keine Spur mehr: Sein Atem floss ungestört durch seinen weichen Bauch; er klammerte nicht mehr an seinem Traumhasen – und seine Füße wurden immer wärmer. Vielleicht war es so, weil er inzwischen wusste, dass diese Art von Angst sinnlos war; dass die Dunkelheit nur die andere Seite des Lichts ist. Vielleicht war es aber auch der Mond, der ebenfalls bemüht war, den Jungen von seiner Angst vor der Dunkelheit zu befreien. Darum schien er umso heller in sein Zimmer hinein – und Gregor konnte erkennen: Es versteckte sich hier definitiv kein Monster.

So lernte Gregor an diesem herausragenden Abend ein paar Gesichter der Angst kennen. Er glaubte sogar, nun auch ihre Stimme zu kennen. Und er wusste, dass es zwar in Ordnung war, Angst zu haben. Doch es gab auch einen Weg, sich von ihr nicht unnötig ergreifen oder sie kleiner werden zu lassen. Der Samen des Vertrauens war nun in sein Herz gesät: Gregor war bereit, seiner Angst schon morgen im Sportunterricht zu begegnen. Er kuschelte sich in seine Decke ein und merkte, wie sich der weiße Schleier der Müdigkeit über seinen Körper und seine Gedanken ausbreitete …

Und das Angstmonster? Es kam sich selbst nicht mehr so gruselig vor und war zufrieden damit, endlich ein Gesicht und eine Gestalt zu haben, statt immer nur aus dem Schatten zu handeln. Für heute war es für die Angst an der Zeit zu gehen. Darum eilte sie, Gregor ihre letzte Geschichte über die Angst zu erzählen. Diese Geschichte sollte ihm keine Angst, sondern Mut machen, jeder Art von Furcht entschlossen entgegenzutreten – und insbesondere der vor der Dunkelheit.

Geschichte über den Mönch, der in einer dunklen Höhle das Licht fand

Es gab einmal einen Mönch. Er lebte zurückgezogen in einem Kloster, betete viel und erledigte seinen Alltag nach Klosterregeln. Er besaß nichts außer seiner schwarzen Robe, seinem Rosenkranz und seinem Glauben. Alles in seiner Welt schien in Ordnung zu sein. Doch etwas nagte am alten Mönch: Seit Jahrzehnten fand er nachts keine Ruhe. Oft wälzte er sich stundenlang in seinem einsamen Verließ, ohne in den Schlaf zu finden. Er war aufgewühlt und dachte, dass es die Dunkelheit im Raum war, die er nicht ertragen konnte. Manchmal zündete er sogar eine kleine Kerze an. Doch auch sie war ihm keine Hilfe – mehr noch: Sie warf komische flackernde Schatten an das alte Gemäuer und machte den Mönch nur noch ruheloser.

Eines Tages besuchte ein weiser Pilger, der in die Seelen der Menschen blicken konnte, das Kloster. Wie ein Magnet zog er den Mönch an – vielleicht, weil er so zufrieden und in sich ruhend wirkte: der Zustand, den der Mönch trotz seiner langen Klosterpraxis nicht erreichen konnte. So suchte der Mönch ein Gespräch mit dem Pilger.

„Es ist nicht die Dunkelheit in deinem Verließ, die dich nicht schlafen lässt. Es ist der Schatten der Unzufriedenheit, der dir innewohnen“, sagte der Pilger, als er in die Augen des Mönches blickte und darin eine dunkle Furcht erkannte. „Stell dich deinen Schattenseiten – und du wirst Licht in dein Leben bringen. Dann musst du dich auch nicht mehr vor der Dunkelheit fürchten. Du wirst sie sogar lieben lernen“, lächelte er dem alten Mönch zu und verbeugte sich respektvoll vor ihm. „Wie stelle ich das an?“, wollte der Mönch wissen. „Indem du dich in die Dunkelheit begibst – aber nicht, um zu schlafen, sondern um darin und in dir selbst Licht zu suchen.“

Auch wenn der Mönch noch nicht viel mit diesem Rat anfangen konnte, ließ er den Pilger weiterziehen und vertraute Gott, er würde ihn schon auf den richtigen Weg bringen. Denn er war entschlossen, seinen unbekannten, dunklen Seiten zu begegnen. Eines Tages – es waren inzwischen einige Monate vergangen – erfuhr der Mönch von einer Höhle in den Bergen, in die sich einige „verlorene Seelen“ begaben, um zu meditieren: also sich zurückzuziehen und in sich hineinzufühlen. Das Besondere an dieser Höhle war, dass sie völlig dunkel und still war. Kein bisschen Tageslicht, kein Geräusch von draußen drangen hinein. Jeden Meditierenden erwartete das vollkommen dunkle Nichts. Und doch hörte man, dass diejenigen, die nach einiger Zeit die Höhle verließen, ein Stückchen mehr erleuchtet waren als vorher.

Der Mönch erinnerte sich an den Rat des Pilgers und beschloss kurzerhand, sich dieser angsteinflößenden Erfahrung zu stellen.

Vor der Meditationshöhle bekam der Mönch ein paar einweisende Worte mit auf den Weg in die Dunkelheit: Worum es da gehe, sei, in sich hinein zu reisen, um das Licht der eigenen Seele zu erkennen und damit seine inneren Schatten auszuleuchten. Diese können beispielsweise versteckte Gefühle wie Wut, Groll oder Angst sein, die zwar nie zum Vorschein kommen, jedoch den Menschen von innen auffressen. Das scheinbar leere Dunkel der Berghöhle, das nur aus Stille und Ruhe bestand, soll dabei das beste Mittel sein, das Verborgene ans Licht zu bringen.

Mit dieser Einweisung betrat der Mönch den Pfad zur Schattenseite seines Selbst. Die Dunkelheit umarmte ihn – statt ihn, wie von ihm gefürchtet, zu verschlingen. Sein Kopf wurde immer stiller und schon bald konnte er ein kleines Licht in sich anzünden, welches seine dunkle Seite beleuchtete. Nun konnte der Mönch erkennen, was all die Jahre an ihm nagte, ihn des Schlafes beraubte und ihn die Dunkelheit fürchten ließ. Es war die Angst, dass er durch sein Mönchsleben im Kloster etwas Wichtiges da draußen in der großen Welt verpasste. Etwas, was ihn mehr erfüllen und ihn glücklicher machen könnte, als sein bescheidenes Dasein im Kloster. Doch nun war diese dunkle Angst ins Licht gehüllt. Der Mönch erinnerte sich an das Gefühl, welches er vor Jahren hatte – damals, als er beschloss, im Kloster zu leben: Er war im Herzen überzeugt, dass es sein Weg ist; nur spielte ihm sein Verstand einen Streich und flüsterte ihm immer mal wieder den Zweifel daran ins Ohr.

Den Rest seines Lebens verbrachte der Mönch glücklich in seinem Kloster. Nicht, dass er nie wieder Angst spürte – doch die Angst vor der Dunkelheit war es nicht mehr: weder vor der im Außen, noch vor der in seinem Innersten.


Als die Angst mit seiner Geschichte über den Mönch fertig und in Begriff war, auf die Schattenseite des Mondes zu gehen, hinterließ sie auf Gregors Nachttisch ein Geschenk. Es war eine kleine Taschenlampe, mit der der Junge nicht nur nach außen, sondern auch nach innen leuchten kann. Damit alles Dunkle und furchtbar Unsichtbare, das Menschen so sehr Angst macht, ans Licht kommen kann.

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Titelbild: © Mahdi Soheili / Unsplash

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