Wie du lernst, dir und anderen das schönste Geschenk zu machen
Liebe ist überall. Doch oft fällt es uns schwer, sie zu entdecken, sie zu spüren – geschweige denn, Liebe zu schenken. Diese Geschichten über die Liebe zeigen Wege, wie du dir selbst und anderen das schönste Geschenk der Welt machen kannst. Für Kinder und Erwachsene.
Liebe ist wie eine Zauberbrille, die die Schönheit und Wahrhaftigkeit in allem und jedem zum Vorschein bringt.
Was ist Liebe – und wo ist sie zuhause?
„Lass uns über etwas Schönes reden, mein Kind, zum Beispiel über die Liebe“, lud mich meine Oma an einem verregneten Sommertag zu einem Gespräch ein. Denn sie merkte, dass ich gelangweilt bin und verzweifelt nach einer Beschäftigung suche, die mich begeistert.
„Dir fehlt gerade etwas, was dich fasziniert: eine Sache, der du deine Aufmerksamkeit, deine Liebe schenken kannst“, vermutete Oma. Damit hatte sie recht. Die gemeinen schwarzen Wolken und der garstige Regen hielten mich davon ab, was ich am liebsten tat: die Sonne auf meine Nase scheinen lassen, an Wiesenblumen schnuppern, auf unsere Küken im Hof aufpassen … All das war heute nicht möglich. Also saß ich vorm Fenster und starrte in den grauen Himmel – in Hoffnung auf nur einen einzigen Sonnenstrahl.
Meine Oma hatte einen Vorschlag: „Versuche doch, diese dunklen Wolken zu mögen. Wenn du dich nicht mehr über sie ärgerst, spürst du wieder Liebe in deinem Herzen – und du findest sicher bald etwas an ihnen, das dir gefällt.“
Zu der Zeit dieses Gesprächs war ich erst sieben oder acht Jahre alt. Ich wusste nicht viel über die Liebe – oder darüber, wie man sie schenkt –, auch wenn ich sie tagtäglich spürte. Sie erfüllte mich, wenn ich einer Blume beim Wachsen zusah. Liebe schenkte ich, auch wenn unbewusst, jedem Schmetterling, dem ich durch das duftende Erdbeerfeld folgte. Ich spürte Liebe durch mich fließen, wenn ich nach den Sommermonaten bei meinen Großeltern meine Mama wiedersah … Aber vor allem schenkte ich mir selbst Liebe. Beispielsweise, wenn ich meine alljährlichen Sommersprossen liebevoll im Spiegel betrachtete oder über meine neue Zahnlücke lachte. Ich hatte nichts an mir auszusetzen – und liebte mich so, wie ich war.
Unsere Unterhaltung hat mich zum Nachdenken angeregt, wie sich die unsichtbare und doch scheinbar in allem präsente Liebe anfühlt. Als ich Liebe empfand, flatterte und hüpfte mein Herz; es dehnte sich aus und nahm meinen gesamten Brustkorb ein. Dieser fühlte sich warm an; ich fühlte mich unbeschreiblich wohl. Denn ich war leicht wie eine Wolke und fröhlich wie ein bunter Regenbogen. Nur an einem solchen trüb-weinerlichen Tag wie heute fiel es mir nicht so leicht, Liebe zu (emp)finden. Vielleicht, weil ich einfach nicht wusste, was Liebe genau ist …
„Was bedeutet denn Liebe, Oma?“
Oma grübelte. Liebe schien also etwas zu sein, was nicht einmal Erwachsene schnell erklären können. Ich dachte ebenfalls nach: ‚Liebe muss etwas Machtvolles sein – wenn sie mich schon dazu bringen kann, Regenwolken zu mögen.‘ Plötzlich lächelte Oma, als hätte sie eine Idee. Sie verschwand kurz im Nebenzimmer und kam mit einer Sonnenbrille zurück, die bunte Gläser hatte.
„Schau bitte die Wolken durch diese Brille an“, schlug sie fröhlich vor und sah zu, wie ich diese, skeptisch und verdutzt, aufsetzte. Dann passierte etwas Unerwartetes: Durch die bunten Gläser sahen die schwarzen Wolken plötzlich anders aus! Sie waren keine dunkle Masse mehr und bekamen Konturen!
„Oh, jetzt sehe ich Figuren!“, jubelte ich. „Da drüben ist eine Wolke, die wie ein Bär aussieht. Und ein wenig höher sehe ich einen Schmetterling auf einer Blume. Und da drunter fliegt ein Drache …“
Oma schmunzelte, als sie meine Skepsis und die Langeweile schwinden und meine Neugier erwecken sah.
„Du siehst, wie unterschiedlich dir die Welt erscheinen kann. Wenn du dich ärgerst oder traurig bist, erkennst du nichts außer den dunklen Wolken, die dir möglicherweise sogar bedrohlich vorkommen. Siehst du mit den Augen der Liebe – wie gerade eben durch die farbige Brille –, erkennst du in jeder Sache auch das Gute und die Schönheit! Denn alles hat zwei Seiten, die zusammengehören. So wie Licht und Schatten oder männlich und weiblich nur die zwei unterschiedlichen Seiten einer Medaille sind. Weißt du nun, was Liebe ist?“
„Ich glaube schon“, antwortete ich heiter, „Liebe ist wie eine Zauberbrille. Sie bringt in jedem und allem die guten Seiten zum Vorschein. Sie zeigt sogar Unsichtbares, das mit bloßem Auge nicht zu sehen ist“, fasste ich zusammen.
„Genau, mein Kind. Dank dieser Brille siehst du nicht mehr nur mit deinen Augen. Du siehst mit deinem Herzen – da, wo Liebe zu Hause ist und wo du sie jederzeit findest. Wenn eine dunkle Wolke dein Gemüt einhüllt, dann lege einfach deine Hände auf deinen Brustkorb, schließe deine Augen, spüre dein Herz schlagen und sieh hinein. Da ist es immer hell – denn da leuchtet die Blume der Liebe in ihren purpur-goldenen Farben.“
Der trübe Tag schien mir nicht mehr so trostlos zu sein, denn das Gespräch über die Liebe versprach neue Einblicke in die Welt der Erwachsenen! Ich folgte Omas Worten und legte meine kleinen Hände auf meine Brust: auf die Stelle, an der ich mein Herz gegen den Brustkorb klopfen spürte. Zum ersten Mal nahm ich mein Herz bewusst, als etwas Lebendiges, als ein sehr bewegtes Teil von mir wahr. „Ist es die Liebe, die mein Herz schlagen und vibrieren lässt, Oma?“
„Immer, mein Kind. Es ist immer die Liebe, die dich bewegt. Und die dich auf deinem Lebensweg am weitesten bringt. Denn wenn du lernst, Liebe zu schenken, wird sie immer mehr. Dann trägst nicht nur du sie im Herzen, sondern sie trägt dich auch durchs Leben.“
„Aber Omaaaaa, wie kann ich etwas Liebe schenken, das mir keine Freude bereitet – wie diese dunklen Wolken zum Beispiel, die die Sonne verdecken?“, kam ich wieder auf das schlechte Wetter zurück, das mich von meinen Lieblingsbeschäftigungen draußen in der Natur abhielt.
„Nichts ist leichter, als Liebe zu schenken. Du musst nur mit dem Herzen hinsehen, um zu verstehen, warum die Wolken da sind. Dann fällt es dir auch leichter, sie anzunehmen und sogar zu lieben. Denn sie bringen der Erde den kostbaren Regen – damit sie Blumen und Früchte „gebären“ kann, die du ja so sehr liebst.“
Ich schaute nochmals in den mit einer dicken Wolkendecke umhüllten Himmel und dankte ihnen für das nährende Wasser, das sie brachten. Ich glaubte, ich liebte sie bereits – genau dafür. Meine Dankbarkeit äußerte sich in einem breiten, zufriedenen Lächeln. „Wenn du dankbar bist, empfindest du auch Liebe, mein Kind. Auf diese Art umarmt die Liebe zärtlich dein Herz und umhüllt dich gänzlich“, eilte Oma mit einer weiteren Sicht auf dieses wundervolle Gefühl der Herzensgüte.
„Wenn ich meine Liebe einfach so verschenke, ist sie irgendwann weg, oder?“, packte die Sorge mein kindliches Herz.
„Hab keine Angst, dass dir die Liebe ausgeht, wenn du sie zu oft verschenkst. Die Liebe besitzt nämlich eine besondere Eigenschaft: Sie wird immer mehr, wenn man sie schenkt!“
Das beruhigte mich und ich war bereit, Omas Geschichten darüber zu lauschen, wie ich Liebe schenken kann – und zwar bedingungslos. Denn ich wollte unbedingt, dass die Liebe irgendwann so groß wird, dass sie die ganze Welt umarmt und alle Menschen mit Glück und Freude erfüllt.
Wie du dir selbst Liebe schenkst
„Das größte Geschenk, das du dir machen kannst, ist dich selbst zu lieben: Erwachsene nennen dieses Gefühl ‚Selbstliebe‘“, fing Oma mit ihrer ersten Geschichte über die Liebe an. „In deinem Herzen lebt dieses Gefühl noch unbekümmert. Doch manche Menschen verlieren es mit der Zeit: Sie lieben sich immer weniger, je erwachsener sie werden. Eines Tages spüren sie die Selbstliebe gar nicht mehr.“
„Wo geht sie denn hin, Oma? Kann sie also verschwinden, wenn ich größer werde?“, fragte ich beunruhigt nach und spürte, wie der Wunsch in mir wuchs, für immer ein Kind zu bleiben.
„Wenn du erwachsen wirst, fängst du an, dich immer mehr durch die Augen anderer Menschen zu sehen. Du orientierst dich an ihrer Meinung über dich und passt dich ihnen an, um ihre Liebe geschenkt zu bekommen. Dabei vergisst du immer mehr, wer du wirklich bist. Früher oder später findest du dich selbst nicht mehr liebenswert.“
„Wozu brauche ich denn die Selbstliebe, wenn mich doch meine Eltern lieben, wenn du mich so sehr liebst?“, bohrte ich nach.
„Die Selbstliebe ist wie die fruchtbare Erde, die uns reichlich beschenkt. Wenn du dich selbst nicht liebst, bist du wie eine dürre Wüste, in der nichts wächst – und du kannst niemals anderen Liebe schenken,“ klärte mich Oma geduldig auf.
„Und was soll ich nun tun, wenn ich meine Selbstliebe verliere, wenn ich erwachsen werde?“, schaute ich verzweifelt meiner Oma in die Augen.
„Diese kurze Geschichte soll dich im richtigen Augenblick daran erinnern, dass deine Selbstliebe nur wie ein Dornröschen in deinem Herzen schläft. Bis du wieder nett zu dir bist und sie zum Leben erweckst“, kündigte Oma ihre Geschichte darüber an, wie man sich selbst Liebe schenken kann.
Eine Geschichte über die Selbstliebe
Selbstliebe ist wie ein Schmetterling: Sie beflügelt dein Herz und öffnet dir die Augen für deine eigene Schönheit.
An einem frühlingshaften Apriltag wurde es für den kleinen Schmetterling Mika Zeit, aus seinem Kokon zu schlüpfen und seinen ersten Flug zu absolvieren. Sein Heimatstrauch bewegte sich und schien lebendig zu sein. Denn an diesem Morgen verließen auch viele andere Schmetterlinge ihre Puppen. Hunderte von Flügeln bewegten die Luft und erfüllten sie mit strahlendem Gelb, Orange, Blau, Lila und Grün! Nur Mika konnte zu dieser Farbenpracht nichts beitragen: Er hatte überwiegend graubraune Töne an seinen Flügeln.
„Du bist ja gar nicht leuchtend wie wir“, kicherten andere Schmetterlinge, die aufgeregt um Mika herumflatterten. „Was bist denn du für ein Schmetterling, wenn du diese Welt nicht ein wenig farbenfroher und fröhlicher machen kannst?“
Blitzschnell verschwand Mika in seinem Heimatstrauch, um dieser Blamage zu entkommen. Er war so sehr enttäuscht von der Farbwahl, die ihm zuteilwurde, dass er gar keine Lust mehr zum Fliegen hatte. In diesem Moment wünschte er sich nichts mehr auf der Welt, als mit anderen Schmetterlingen um die Wette zu leuchten und den Himmel bunt zu färben. So beobachtete Mika, zutiefst verletzt und traurig, aus dem Schatten des Strauchs seine Geschwister, die die Luft mit Regenbogenfarben füllten. Hier blieb er den ganzen Tag lang, bis es dunkel wurde und er unbemerkt sein Versteck verlassen konnte.
„Nachts kann niemand sehen, dass ich so unscheinbar bin. Da kann ich losfliegen und mich nach einem anderen Strauch umsehen. Vielleicht habe ich Glück und finde andere Geschwister, die ebenso unglücklich mit ihrer Farbe sind wie ich“, ermutigte sich Mika und flog los.
Am nächsten Morgen fand er sich in einem Akazienbusch wieder. Zu seiner großen Freude blühte der Strauch bereits – und der gelbe Blütenstaub bedeckte seinen zartbraunen Körper und seine Flügel. „Yippie“, jubelte Mika. „Endlich etwas Farbe in meinem Leben. Jetzt kann ich mit anderen Schmetterlingen diese Welt bunter machen.“ Fröhlich flog er hinaus, um mit seiner neuen Familie den Garten zu erkunden, als plötzlich ein Windstoß den gelben Blütenstaub von Mikas Flügeln wegpustete.
„Oh, du bist ja so unscheinbar braun“, hörte er wieder das Gekicher um ihn herum. „Es tut mir leid“, entschuldigte sich Mika und verschwand im Schatten des Akazienstrauchs. Er hatte einfach kein Glück im Leben. Er schämte sich, so anders als die anderen zu sein, fühlte sich nutzlos und nichtig. Wie konnten ihn andere annehmen, wenn nicht einmal er selbst sich so annahm, wie er war?
Von nun an bewegte sich Mika nur noch nachts durch die Lüfte und versteckte sich tagsüber in den Sträuchern. Bis er eines Abends an einem abgelegenen Waldsee landete. Er setzte sich auf einen Grashalm über dem Wasser, welches so still und glatt war, dass Mika zum ersten Mal sein Spiegelbild sah. Er faltete sich auf, um sich in seiner ganzen Größe zu betrachten, als er plötzlich gleich mehrere helle Flecken auf seinen bräunlichen Flügeln entdeckte. Diese sahen wie ein Pfauenauge aus und gaben Mika das Gefühl, nicht mehr so unscheinbar zu sein. Sie machten ihn sogar irgendwie besonders!
Er klappte seine Flügel mehrmals auf und zu und fand das Spiel mit seinen „Pfauenaugen“ unterhaltsam; fühlte sich zum ersten Mal wohl in seinem Körper. Froh über diese Entdeckung kreiste Mika jubelnd über dem Wasser und spielte mit seinem fröhlich-gepunkteten Spiegelbild – bis er Stirn an Stirn mit einem anderen Nachtschwärmer zusammenstieß. Dies war ein erwachsener Schmetterling, der ebenfalls ein gräuliches Gewand trug.
Zu Mikas Verwunderung fand er den Unbekannten nicht langweilig-unscheinbar. Seine Flügel, die ebenfalls schöne weiße Flecken schmückten, reflektierten das schwindende Abendlicht und schimmerten samtig. Fasziniert entdeckte er, dass auch seine eigenen feinen Härchen das restliche Licht einfingen und im Dunklen zu leuchten begannen. Außerdem stellte er fest, dass die Form seiner kleinen Flügel nur sehr wenig Luftwiderstand erzeugt. Das erklärte, warum er flinker und geräuschloser als manch anderer Schmetterling flog!
„Es ist schön zu sehen, dass du nun endlich anfängst zu erkennen, wer du wirklich bist, mein Freund“, sprach der erwachsene Schmetterling zum Mika. „Denn nur, wenn du weißt, was dich ausmacht, kannst du dich richtig annehmen – und dich lieben. Und das ist so viel mehr als die Farbe deiner Flügel.“
Das kleine Herz von Mika hüpfte vor Freude. „Wer bin ich denn wirklich, wenn ich kein bunter Schmetterling bin?“
„Du bist ein Nachtfalter, mein Kleiner. Und du bist sehr wichtig für diese Welt. Du bist nicht da, um sie bunter zu machen – sondern vielfältiger. Denn bestimmte Pflanzen und Blumen sind auf deine Hilfe angewiesen. Sie warten jede Nacht darauf, von dir bestäubt zu werden. Weil du existierst, können Blumenwiesen mit ihren bunten Farben die Welt zu einem Regenbogen-Spektakel machen.“
An diesem erkenntnisreichen Abend entdeckte Mika seine Selbstliebe und bestäubte Nacht für Nacht liebevoll seine befreundeten Blumen. Und jedes Mal, wenn seine Selbstliebe drohte zu schrumpfen, kam er zum abgelegenen Waldsee. Hier ließ er seine Einzigartigkeit vom Wasser spiegeln und sah anderen Nachtfaltern mit den Augen der Liebe bei ihren Abendritualen zu. Nun liebte er sogar die bunten Schmetterlinge, die ihn für sein Erscheinungsbild auslachten …
„Versuch nie, jemand anderes zu sein, mein Kind. Finde stattdessen heraus, wer du bist und liebe dich genau dafür – und zwar bedingungslos“, beendete meine Oma ihre Geschichte über die Liebe zu sich selbst. In diesem Augenblick flog ein kleiner Schmetterling an unserem Fenster vorbei. Oma wartete geduldig ab, solange ich diesen mit einem begeisterten Blick verfolgte, und kündigte dann ihre nächste Erklärung über die Kunst des Liebe-Schenkens an.
Wie du jemandem Liebe schenken kannst, der dir wehgetan hat
Wenn du dir und anderen vergibst, lässt du Liebe aus deinem Herzen hinausströmen.
„Die höchste Kunst der Liebe ist jemanden zu lieben, der dich verletzt hat, mein Kind.“
Ich kniff meine Augen zu: In diesem Moment erinnerte ich mich an den Schmerz, den mir mal ein Nachbarsjunge zufügte. Er schubste mich die Rutschte hinunter, als ich unentschlossen und voller Angst oben saß und den Mut nicht aufbrachte, loszugleiten. Dabei habe ich mir sehr schmerzlich mein Knie angestoßen. Die Prellung war zwar inzwischen verheilt. Doch jetzt, als ich daran dachte, tat mir die angeschlagene Stelle wieder weh. Prompt erinnerte ich mich auch an meine Wut und die Hilflosigkeit, die ich diesem großen Jungen gegenüber empfand. Ich zögerte nicht, diese Geschichte meiner Oma zu erzählen – da soll sie mir mal erklären, wie ich meinem Peiniger Liebe schenken kann?!
„Du wirst diese Wunde solange spüren, bis du dem Jungen verziehen hast. Denn jemandem zu verzeihen bedeutet, in eine Sache, die passiert ist und die du nicht mehr ändern kannst, Liebe fließen zu lassen“, begann Oma mit ihrer Erklärung, als sie in meine verzweifelt-fragenden Augen sah.
Ich legte meine Hände auf mein Herz, schloss die Augen und dachte an diesen mit Schmerz, Ärger und Leid erfüllten Tag zurück. Doch mein Versuch, da drin Liebe zu finden, war erfolglos.
„Nichts passiert umsonst, mein Kind. Wenn du die Bedeutung, den Sinn hinter den Dingen, die dir widerfahren, erkennst, gelingt es dir viel leichter, zu verzeihen. Und wem du verzeihst, dem schenkst du automatisch Liebe. Und dabei schenkst du auch dir selbst Liebe. Denn so erlöst du dich vom alten Schmerz, der als eine qualvolle Erinnerung dein Herz belastet.“
Ich suchte und suchte nach dem Sinn für den Schmerz, den der böse Junge verursacht hatte. Vergebens. Oma eilte zur Hilfe: „Warum saßt du denn überhaupt oben auf der Rutsche, wenn du doch so ängstlich warst?“
„Ich beneidete andere Kinder so sehr darum, dass sie völlig angstfrei hoch- und herunterklettern, rutschten und dabei viel Spaß haben. Ich musste ihnen immer von unten zusehen. Und doch wollte ich unbedingt mal mitmachen.“
„Was hat denn der Junge damit bewirkt, als er dich die Rutsche hinunterschubste?“, half mir die Oma auf die Sprünge.
„So konnte ich erkennen, dass es nicht gefährlich ist, hinunterzurutschen. Hätte ich mich nur nicht so blöd mit meinem Knie angestellt … Seit dem Vorfall war ich bereits zehn Mal auf der Rutsche – es fiel mir sogar jedes Mal leichter. Nun kann ich endlich mit anderen richtig Spaß haben!“
„Du siehst, mein Kind, der Junge hat dir geholfen, auch wenn es dir im ersten Moment nur Schmerzen bereitet hat. Durch ihn konntest du deine Angst überwinden!“
Auf einmal spürte ich Erleichterung in meinem Herzen: Es zwickte nicht mehr, als ich an diesen Jungen dachte. Vorsichtig streifte ich mit der Hand über mein Knie – und es meldete sich nicht mehr mit einem ziehenden Schmerz der Erinnerung. Denn nun floss Dankbarkeit aus meinem Herzen. Und die Liebe der Vergebung, die ich jetzt dem Nachbarsjungen schenken konnte …
„Dieser Junge würde sich sehr wundern, wenn er erfahren würde, dass ich ihm gerade Liebe geschenkt habe. Sie interessiert ihn bestimmt nicht, meine Liebe“, plapperte ich vor mich hin.
„Er wird es bestimmt spüren, meine Liebe. Denn wenn du jemandem einen liebevollen Gedanken schickst, landet dieser direkt in seinem Herzen und erfüllt es mit Wärme“, entkräftete die Oma meine Skepsis.
Mit dieser ungewöhnlichen Geschichte über die Liebe erweckte Oma meine Neugier vollends. In meinem Kopf kreisten nun viele Fragen dazu, wie und wem ich sonst noch Liebe schenken kann.
Wie du jemandem Liebe schenken kannst, der deine Liebe nicht erwidert
„Oma, jemanden lieben, der dir seine Liebe nicht schenken will – geht das auch?“
„Ja, mein Kind! Auch diese Liebe hat eine kostbare Lektion für uns parat. Sie lehrt uns, nicht zu verbittern oder gar in Hass zu verfallen, wenn jemand unsere Liebe nicht erwidert. Sie lehrt uns, loszulassen. Und im Loslassen tut die Liebe das, wozu sie bestimmt ist: Sie fließt und suchst sich einen neuen Weg. Wenn du jemanden also in Liebe gehen lässt, akzeptierst du seinen Willen – und schenkst ihm so deine Liebe. Dabei schenkst du dir selbst Liebe und machst dein Herz dafür frei, Liebe wieder zu empfangen.“
Ich schaute recht skeptisch, denn verstanden habe ich es nicht. Meine Oma kannte diesen meinen verdutzten Gesichtsausdruck – und packte ihre nächste Geschichte darüber aus, wie man Liebe schenken kann.
„Ich schenke dir mein Herz“: Eine etwas andere Liebesgeschichte
Im Loslassen der unerfüllten Träume tut Liebe das, was sie am besten kann: fließen.
„Ich liebe dich so sehr, mehr als alles andere auf der Welt. Mehr als mich selbst.“ Mit dieser sehnsuchtsvollen Widmung startete Lena jeden Morgen in den Tag. Sie widmete auch sonst fast alle ihre Gedanken ihrer großen Liebe, die den Namen Vadim trug. Sie kannte ihn bereits seit dem Kindergarten. Doch heute wie damals, als sie zusammen im Sandkasten spielten, schien Lena für Vadim unsichtbar zu sein: Egal, wie sehr sie sich bemühte, nahm er keinerlei Notiz von ihrer Existenz.
So vergingen Monate und Jahre. Für Lena war es die Zeit, die zwar von Liebe, doch nicht von Glück erfüllt war. Und Vadim ging seine Wege – ohne Lena und ohne ihre verzehrende Liebe nach ihm. Nein, Vadim hatte nichts gegen die Liebe: Er schenke Liebe sogar großzügig! Er liebte sein schnelles Auto, seine stilvoll eingerichtete Wohnung, seinen Job und den Nachbarshund, mit dem er stundenlang im Wald spazieren ging. Er liebte fliegen und fremde Länder; historische Romane und Filme über Superhelden. Es war also viel Liebe da, im Herzen von Vadim. Das wusste Lena und wollte die Hoffnung nicht aufgeben, irgendwann einen Tropfen seiner kostbaren Liebe abzubekommen …
„Ich färbe mir die Haare rot. Denn ich sah Vadim gestern mit einer rothaarigen Frau. Er scheint diese Haarfarbe zu mögen und wird bestimmt auf mich aufmerksam!“, dachte Lena und rannte zum Friseur. Beim nächsten Mal lieh sie bei ihrer Freundin teure Schuhe mit hohen Absätzen, zog ihr schönstes Kleid an und flanierte hin und her vor Vadims Fenster. Wieder ein anderes Mal küsste sie einen Bekannten an der Bar, in Hoffnung, der nebenan stehende Vadim würde dies sehen und sein Interesse für Lena entdecken. Doch all ihre Versuche blieben erfolglos. Vadim hatte zwar viel Liebe in seinem Herzen, aber für Lena war keine übrig.
Mit der Zeit entwickelte sich ein anderes Gefühl in Lenas Herzen. Zwar meinte sie, da wäre kein Platz für etwas anderes außer für die Liebe zu Vadim. Und doch breitete sich dieses andere Gefühl wie eine dunkle Wolke in ihr aus: die Bitterkeit. Lena spürte, dass sie auf Vadim sauer wurde. Dass sie ihn sogar begann zu hassen, auch wenn nur ganz leise. Dies konnte sie nicht zulassen. Sie wollte diesem ungebetenen Gast nicht erlauben, ihre Gedanken zu vergiften und ihre Liebe zu Vadim zu verdrängen. Also wollte sie ihre Liebe schützen: „Ich sperre sie auf immer und ewig in meinem Herzen ein!“ beschloss Lena und besuchte an einem Freitag, den 13., eine Heilerin.
Heilerin Monique besaß viele spirituelle Fähigkeiten und Werkzeuge, um anderen auf ihrem Weg zu helfen. Sie legte Karten, las den Kaffee-Satz und machte Räucherrituale, um böse Geister zu vertreiben. Sie sprach mit Engeln, betete zu Feuer und Wasser, zu Luft und Erde. Sie konnte sogar die Sonne an einem bewölkten Tag wieder zum Scheinen bringen – und zwar im Herzen ihres Klienten. Nur bei Lenas Auftrag war sie hilflos. Monique wusste nämlich: Liebe kann man nicht einsperren. Es wäre gegen das Gesetzt des Universums, etwas einzukerkern, was dazu bestimmt ist, zu fließen. Zum Glück hatte sie einen heilenden Rat für Lena und ihr Herz, das bereits angefangen hatte zu zerbrechen.
„Ich verrate dir jetzt ein kosmisches Geheimnis, du liebe Schönheit“, wendete sich Monique verständnis- und liebevoll an Lena. „Liebe ist das Heilmittel gegen alle Krankheiten dieser Welt. Doch sie wirkt nur, wenn sie aus den Herzen der Menschen bedingungslos fließt. Versuchst du sie festzuhalten, verliert Liebe ihre heilende Kraft. Sie wandelt sich in Hass und kann sogar kränken. Genau das spürst du gerade in deinem Herzen. Es kann nämlich mit der „gestauten“ Liebe nicht umgehen: Wie ein Staudamm, der zu viel Wasser aufhalten soll, bricht es früher oder später zusammen.“
„Was soll ich denn tun, wenn mein Herz doch nur für Vadim brennt und sich nach seiner Liebe sehnt? Ohne diese Liebe wäre mein Herz leer …“, sank Lena ihren Kopf und lies die Tränen der Trauer auf ihre Hände tropfen.
„Dein Herz ist nie leer oder ohne Liebe. Denn es ist immer genug Liebe da, die in deinem Herzen zu Hause ist. Zum Beispiel Selbstliebe.“
„Selbstliebe?“, hob Lena ihren Kopf. Dieses Wort war ihr zwar neu. Doch es schenkte Hoffnung …
„Wenn du dich selbst liebst, wirst du für diese Welt erst sichtbar. Weil du dann wie tausend Sonnen strahlst“, erzählte Monique voller Elan. Um Lena zu helfen, Selbstliebe zu lernen, gab ihr die Heilerin zwei Werkzeuge, mit denen sie Liebe in ihrem Herzen pflegen und die Selbstliebe jederzeit aufwecken kann.
„Diese rote Rose ist der ewige Atem der Liebe. Atme sie tief in dein Herz hinein. So kannst du sie jedes Mal wie eine kleine Leuchte in deinem Inneren zum Strahlen bringen, wenn dich Trauer überkommt. Und dieser herzförmige Anhänger aus Rosenquarz aktiviert und stärkt deine Selbstliebe, wenn er sich an deinem Brustkorb mit der Rose in deinem Herzen verbindet. “
Lena hängte sich das kühle, glatte Heilstein-Herz um, nahm behutsam die wunderschön rot leuchtende Rose; roch an ihrem sinnlichen Duft und spürte, wie die Blume der Liebe in ihrem Herzen ihren Platz fand.
„Jetzt denke an deine Liebe zu Vadim“, setzte die Heilerin ihre Erklärung fort, „lass sie einmal durch deine Rose hindurchgleiten und atme sie aus. Segne nun Vadim auf seinem Weg und lass so die pure, bedingungslose Liebe aus deinem Herzen fließen. Spüre dann, wie dein Rosenquarz-Herz warm wird – und die Selbstliebe in dein Herz einzieht.“
Lena folgte Moniques Anweisung. Alsbald sie ihre nicht-erwiderte Liebe hinaus atmete, wurde es ihr unglaublich warm ums Herz. Sie spürte sie: ihre Selbstliebe, die jahrelang unter der zerrenden Sehnsucht nach Vadims Liebe begraben lag. Von nun an machte Lena jeden Morgen ein kleines Ritual: Sie stellte sich vor den Spiegel und schenkte sich ein Lächeln. Liebevoll streichelte sie mit ihren Fingern den glatten Rosenquarz-Anhänger, unter dem ihr Herz immer fröhlicher klopfte; sah anschließend ihre Rose purpurrot aufleuchten und sprach: „Ich liebe mich – mehr als alles andere auf der Welt. Bedingungslos.“
Schon bald spürte sie, dass in ihrem Herzen noch etwas Neues da war. Da war wieder freier Platz, um Liebe zu empfangen, die bereits draußen auf sie wartete.
Diese Geschichte schien mir einleuchtend: „Wenn ich also jemanden oder etwas loslasse, schenke ich nicht nur ihm meine Liebe. Ich schenke mir Selbstliebe, stimmt’s?“ Meine Oma nickte lächelnd. Da ich von Natur aus wissbegierig war und Dinge gerne von allen Seiten betrachtete, stellte ich sie mit meiner nächsten Frage vor eine knifflige Aufgabe …
Wie du jemandem, dessen Liebe du nicht erwiderst, trotzdem Liebe schenkst
Jemanden „sehen“ und seine Gefühle respektieren bedeutet, ihm Liebe zu schenken.
„Und wie geht es umgekehrt, Oma? Wenn ich Vadim wäre: Wie könnte ich Lena Liebe schenken – wenn ich sie doch nicht liebe?“
„Auch das geht, mein Kind“, antwortete Oma ohne zu zögern. „Denn Liebe findet immer ihren Weg aus unserem Herzen – in welcher Form auch immer. Jemanden ‚sehen‘ und seine Gefühle respektieren bedeutet eben auch, demjenigen Liebe zu schenken. Wenn du also ehrlich zu jemandem bist, machst du das aus reiner Liebe. An Vadims Stelle würde ich mit Lena ein Gespräch suchen, ihr dabei tief in die Augen schauen und liebevoll erklären: ‚Ich sehe deine Liebe und bin dankbar dafür. Zwar kann ich dich nicht so lieben, wie dies Mann und Frau tun. Aber ich liebe dich wie eine wertvolle Freundin.‘ Das würde Lena helfen, loszulassen …“, antwortete Oma.
Ich gab mich mit dieser Antwort zufrieden. Denn in der Zwischenzeit reifte die nächste komplexe Aufgabe zum Thema „Liebe schenken“ in meinem Kopf an. Da ich es kaum erwarten konnte, meiner Oma eine „Falle“ zu stellen, fragte ich sich keck:
„Wem kann ich Liebe schenken, wenn niemand da ist, um dieses Geschenk entgegenzunehmen?“
Tue alles mit Freude und von ganzem Herzen – dann tust du es mit Liebe.
„Liebe, mein Kind, hat viele Gesichter: Sie ist die Quelle der Inspiration, die ungezügelte Freude, der Ruhepol in stürmischen Zeiten und der Trost an trüben Tagen wie diesen. Doch in ihrer Essenz ist sie ein und dieselbe Energie: die reinste Energie deines Herzens. Und sie ist immerwährend, unerschöpflich – vor allem, wenn du Liebe in deinem Herzen pflegst und sie bedingungslos in die Welt fließen lässt. Und dafür braucht es nicht immer einen anderen Menschen. Weil es Phasen im Leben gibt, mein Kind, da ist es heilsam, allein zu sein und all die Formen und Tiefen der Liebe zu ergründen.“
„Wo fließt dann meine Liebe hin? Denn sie festzuhalten wäre ja falsch …?“, brillierte ich mit meinem neuen Wissen.
„Liebe kannst du in alles, was du tust, hineinfließen lassen, mein Kind“, lies sich die Oma von meinen heimtückischen Fragen nicht beirren. „Mache alles aus ganzem Herzen und mit Freude – dann machst du es mit Liebe. Und du wirst merken: Alles, was du auf diese Art und Weise tust, wird dich mit Liebe erfüllen. So schenkst du Liebe nicht nur, sondern bekommst sie auch zurück. Zum Beispiel in Form von Dankbarkeit, Glücksgefühlen oder Begeisterung.“
Um ihre Ausführungen zu bekräftigen, wartete Oma mit ein paar Beispielen auf:
„Den Ausdruck ‚Liebe geht durch den Magen‘ hast du bestimmt schon mal gehört …? Wie kommt denn Liebe in den Magen, meinst du?“
„Na ja, wahrscheinlich, weil ich etwas mit Liebe gekocht habe?“, murmelte ich unsicher. Doch ich schien mit meiner Vermutung ins Schwarze getroffen zu haben. „Ganz genau: Lass deine Liebe beim Kochen mit hineinfließen – und du schenkst Liebe demjenigen, den du bewirtest. Denn alles, was du mit Liebe zubereitest, schmeckt besonders gut!“
Ich wollte mehr Beispiele hören. Denn das Gespräch darüber, wie ich Liebe schenken kann, machte mir richtig Spaß. Ganz nebenbei lenkte es mich vom trüben Wetter ab.
„Ich habe dich bei einer Sache beobachtet, die du immer mit Liebe machst, meine Kleine! Wenn du im Garten spielst, entgeht deinem liebevollen Blick keine Ameise, kein Schmetterling, keine Blume. Du bewunderst sie und schenkst ihnen deine Liebe. Und das bedingungslos. Alles Lebendige reagiert auf deine Liebe und schenkt dir Freude – und somit Liebe! Der Schmetterling setzt sich auf deine Hand. Die Blume bemüht sich, dich mit ihrem betörenden Duft zu verwöhnen. Und die kleine Ameise begeistert dich mit ihrer Kraft, indem sie etwas transportiert, was viel schwerer ist als sie selbst. Da fließt die Liebe ununterbrochen zwischen euch!“
„Kann ich auch leblose Gegenständen mit Liebe beschenken?“, bohrte ich nach. „Aber das tust du doch schon – wenn du beispielsweise deine Lieblingspuppe jeden Morgen frisierst, schön anziehst, sie spazieren führst oder sogar fütterst. Auch das bereitet dir Freude, erwärmt dein Herz und zaubert dir ein Lächeln ins Gesicht. Und die Liebe fließt – zwar unbewusst, aber ebenfalls bedingungslos.“
Meine Neugier war nun gestillt. Ich überlegte kurz, ob mir noch eine weitere Situation zum Thema „Liebe schenken“ einfällt. Im nächsten Augenblick verzogen sich die Wolken, die Sonne zeigte sich und lenkte mich von unserem Gespräch ab. Sie lockte mich nach draußen, in die Natur, die ich so sehr liebte. Doch meine Oma hatte noch eine letzte Geschichte über die Liebe parat – eine der wichtigsten, meinte sie. So setzte ich mich erwartungsvoll und voller Vorfreude auf ihren Schoß und lauschte …
Wie du jemandem Liebe schenkst, der dich ebenfalls liebt
Die wahre Liebe lässt Liebende über sich hinauswachsen.
„Nun ja, mein Kind. Wenn du gelernt hast, dir selbst und allem um dich herum Liebe zu schenken, bist du bereit für eine neue Reise. Diese führt dich tief in dein Herz hinein und gleichzeitig hoch – auf Wolke sieben kann man sagen“, schmunzelte meine Oma. Am Glanz meiner Augen erkannte sie, dass ich bereits ahnte, um welche Art der Liebe es gleich geht: um die romantische Liebe zwischen Mann und Frau. Um die Liebe, die zwischen zwei Menschen fließt und immer größer wird. Um die wahre Liebe, die beide Liebenden über sich hinauswachsen lässt.
„Eine Liebe, die nach der Selbstliebe die wichtigste ist, eine, die sogar Früchte trägt, viele Früchte – wie der mächtige Apfelbaum in unserem alten Garten“, machte Oma es noch spannender … „Über diese Liebe gibt es unzählige Geschichten, mein Kind. Denn jedes Paar schreibt seine eigene Liebesgeschichte. Ich erzähle dir gerne meine.“
Ich kuschelte mich an sie, spürte, wie ihr großes Herz etwas schneller gegen ihre warme Brustwand klopfte, und lauschte ihrer ganz persönlichen Geschichte über die Liebe.
„Es gab Zeiten, in denen dein Opa und ich für einige Jahre voneinander getrennt waren. Es waren schwere Zeiten für uns beide. Nicht nur, weil wir uns nicht mehr sehen oder spüren konnten. In meinem Leben waren viele Entbehrungen da. Und dein Opa wurde stets von Gefahren umgeben. Denn es war der große Krieg, den machtgierige Männer aus verschiedenen Ländern gegeneinander führten. Männer, in deren Herzen leider keine Liebe mehr war. Denn sie war restlos verdrängt – von ihrer Gier nach der Macht, über andere zu herrschen. Aber um diese Männer geht es nicht. Denn es ist eine Geschichte darüber, welche Wunder die Liebe vollbringen kann, die im Herzen von zwei Menschen blüht und gedeiht.“
Liebe zum Wachsen – eine wahre Liebesgeschichte
Der Sommer im Jahr 1941 versprach ein ganz besonderer zu werden. Dein Opa und ich waren frisch verheiratet. Unser Garten stand in voller Blüte, alles sprießte und gedieh wie noch nie zuvor. ‚Es ist so, weil du deine wahre Liebe gefunden hast, meine Liebe‘, sagte damals meine Mutter zu mir. ‚Da ist jeder Tag besonders hell und jede Nacht besonders warm. Die Erdbeeren schmecken ausgezeichnet süß und die Sonnenuntergänge wirken goldiger denn je‘, lachte sie, als sie mich verträumt unter einem Apfelbaum sitzen sah. Ja, ich hatte die Zauberbrille der Liebe auf und schwärmte Tag und Nacht von Opa. Und er schwärmte von mir. So verbrachten wir jede freie Minute zusammen: umarmt, verschmolzen, unzertrennlich.
Dann kam der Krieg. An diesem Tag, als bekannt gegeben wurde, dass alle Männer in die Arme einberufen werden, traf ein Blitz mein Herz. Es schien so, also hätte dieser Blitz mein Herz in zwei Hälften gespaltet. Die letzte Nacht, die wir zusammen verbrachten, war die dunkelste Nacht in unserem Leben. Es war die dunkle Nacht der Seele, die wir beide, dein Opa und ich, durchwanderten. Schlaflos. Voller Tränen – und gleichzeitig voller Hoffnung auf ein Wiedersehen. Wann auch immer. Wie und wo auch immer. Tief in unseren Herzen wussten wir, dass der Krieg uns nur körperlich voneinander trennt. Doch unsere Seelen bleiben miteinander verbunden: durch das unsichtbare Band der Liebe, die wir uns gegenseitig schenkten.
Es vergingen Tage und Monate in freudenloser Trennung, beim Warten auf ein Lebenszeichen. Jeden Tag schrieb dein Opa ein paar Zeilen in ein Notizbuch, das er in seiner Brusttasche, ganz nah an seinem Herzen trug. Er schrieb über die Liebe und über die Kraft, die sie ihm in kalten Nächten und an von Maschinengewehren grollenden Tagen verlieh. Bei jeder Gelegenheit schickte dein Opa Worte der Liebe mit einem Brief weg. Auch wenn mich nicht jeder Brief erreichte, wusste ich, was darin stand. Denn Liebende besitzen die Fähigkeit, miteinander gedanklich, ohne Worte zu kommunizieren.
Während mein Mann seine Liebe behutsam dem Papier anvertraute, ging ich zu unserem Apfelbaum und betete. Denn wenn du betest, fließt pure Liebe aus deinem Herzen direkt ins Universum. Auch diese Liebe bleibt nicht unbeantwortet. Denn das Universum antwortet immer – und immer mit Liebe. Ob in Form eines wohltuenden Gedankens oder einem inspirierenden Impuls. Oder einem Moment der Zuversicht und des Vertrauens, wie es bei meinen Gebeten am Apfelbaum der Fall war.
Ich lehnte mich an seinen starken, rauen Stamm, sah zu, wie er wuchs und mit seinen Zweigen den Himmel berührte. ‚Er hat den direkten Draht zum Himmel‘, dachte ich mir. Er könne meine Gebete direkt dem Schöpfer ins Ohr flüstern. Und ich betete und liebte, betete und liebte. Jeden Tag, bei jedem Wetter. Ich bat den Schöpfer im Himmel, meinem Mann die Kraft zu verleihen, die ihn durch alle Gefahren heil durchbringt. Ich bat um das Licht, das ihm im Dunklen den Weg zeigt. Ich bat um die Heilung durch kümmernde Hände und liebevolle Gedanken, wenn eine Kugel ihn verletzen würde.
Und eines Tages bekam ich die Antwort auf meine Gebete: „Die Kraft, das Licht und die Heilung trägt er immer bei sich: Es ist seine Liebe zu dir. Sei unbesorgt und vertraue, dass dein Mann zu dir zurückfindet. Denn deine Liebe zu ihm wird sein Wegweiser sein, wo auch immer ihn dieser Krieg hin verschlägt.“ So vertraute ich. Ich wartete, betete und bekam immer wieder ein Lebenszeichen und ein paar Liebeszeilen von deinem Opa. Bis es eines Tages still um mich herum wurde …
Dein Opa geriet in Gefangenschaft und konnte mir keine Briefe mehr schicken. Ihm blieben jedoch sein Notizblock und seine Liebe zu mir erhalten. So wie mir „nur“ meine Liebe zu ihm übrigblieb, zusammen mit meinen Gebeten. In dieser Zeit der Stille zwischen uns sprach ich noch häufiger zum Schöpfer. Dieser schenkte mir seine Liebe und Zuversicht: Tief in meinem Inneren spürte ich, dass dein Opa lebt und eines Tages zu mir zurückkehren wird.
In der Trennung wuchsen wir beide an unserer Liebe. Sie lehrte uns, zu hoffen und nicht aufzugeben. Sie lehrte uns, auch an dunklen Tagen das Licht zu sehen, welches wir in unseren Seelen trugen. Sie schenkte uns Kraft, nach vorne zu blicken – dem Augenblick des Wiedersehens entgegen.
Immer häufiger wandte ich mich an mein eigenes Herz und bat es, vermehrt Liebe und Licht in die verletzte Welt da draußen zu senden: die Welt, von der außer Trümmern nicht viel übrig war. In diesen Momenten betete ich nicht mehr nur für meinen Mann. Ich wandte mich vom ganzen Herzen an andere Herzen. Damit Menschen erkennen, dass der Krieg sinnlos ist, und ihn beenden. Viele andere Frauen taten dasselbe. Vier lange Jahre später wurden unsere Gebete erhört! Unsere Liebe durchbrach alle Kriegsfronten und schenkte der Welt den langersehnten Frieden. Doch bevor dein Opa nach Hause kam, passierte etwas Wundersames.
Als ich an einem sonnigen Tag unter unserem Liebesbaum, dem heute nun sehr alten Apfelbaum, saß, hörte ich den Postboten nach mir rufen: „Ich habe ein Paket für Sie, gnädige Frau“, kündigte er vorsichtig an. Damals wusste niemand, was in Paketen genau enthalten war: ob gute oder schlechte Nachrichten. Mein Herz blieb für eine Sekunde stehen. Mit zitternden Händen riss ich es auf … In meinen Schoß fiel das Notizbuch deines Opas, an seinen Ecken zerfetzt und ziemlich abgegriffen. Es lag ein Zettel bei, auf dem ein Kriegskamerad erklärte, wie er in Besitz von Opas Tagebuch kam: Er konnte sich früher aus der Gefangenschaft retten. So bat ihn mein Mann, den Schreibblock mitzunehmen und an meine Adresse zu schicken.
Das Notizheft, voller Liebeszeilen, war also der Vorbote, der große Hoffnung-Bringer. Darin las ich fünf weitere Monate lang – so lange musste ich noch auf deinen Opa warten. Jeden Tag las ich ein kurzes Kapitel aus seinem Leben, ein Kapitel aus unserer Liebesgeschichte, die bald in Wiedervereinigung weitergehen durfte. Am glückerfüllten Tag, an dem dein Opa ans Fenster klopfte, las ich die letzte Seite seines Tagebuchs, die mit folgenden Worten endete:
Wahre Liebe findet immer ihren Weg, wenn ein anderes liebendes Herz auf sie wartet. Deine Liebe gab mir die Kraft, zu überleben, den Mut, nie aufzugeben – und nun führt mich ihr Licht zu dir zurück.
Eine warme Träne der Erinnerung entwischte Omas Auge und fiel auf meine Wange. „Es ist die Träne der Liebe“, erklärte sie mir. „Denn Tränen sind nicht nur der Ausdruck der Traurigkeit. Auch sie bringen von Zeit zu Zeit die Liebe zum Fließen.“ Ich umarmte meine Oma ganz doll. Denn ich wollte ihr in diesem rührenden Moment so viel Liebe schenken, wie es mein kleines Herz nur hergeben konnte.
Dann sammelte ich liebevoll weitere Liebestränen meiner Oma, fügte meine Freudentränen hinzu und trug sie zu unserem alten, knorrigen, aber immer noch fruchtbaren Apfelbaum. Damit auch er von dieser grenzenlosen, großartigen, kraftvollen, zarten, dankbaren Liebe etwas bekommt. Im Gegenzug beschenkte er mich mit einem reifen, rotleuchtenden Apfel. Dieser schmeckte so süß nach Liebe, Freude und Sommer, dass ich seinen Geschmack immer noch in meinem Mund wahrnehme. Vor allem, wenn ich an meine Oma denke und mich an ihre Geschichten über die Liebe – und wie man sie schenkt! – erinnere …
Titelbild: © Liana Mikah / Unsplash
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